Born to-Reihe

The things you're born to lose - Born to #1

Verdient nicht auch ein Pechvogel ein wenig Glück?

Ihr Leben lang schon stolpert Melody von einer Katastrophe in die nächste.
Nach dem Aus ihrer Beziehung soll ihr Entschluss, Männern abzuschwören, zumindest in diesem Bereich endlich Abhilfe schaffen.
Doch dann stellt nicht nur eine Begegnung mit ihrer Vergangenheit alles auf den Kopf, sondern auch ein ganz bestimmtes Paar blauer Augen.

 

Zur Born to-Reihe gibt es eine Trigger-/Contentwarnung, die sich vor der Leseprobe befindet.

The love you're born to find - Born to #2

Durch Zuris Unfall droht Melody in ein bodenloses Loch zu fallen. Aber er bringt sie auch zu der Erkenntnis, dass Feinde nicht für immer Feinde bleiben müssen.
Daraus geht ein Deal der etwas anderen Art hervor, der wenigstens das bevorstehende Weihnachtsfest retten soll. Allerdings ist das nicht alles, was Melody erwartet.

Doch wie viel Leid braucht es, bis sie daran zerbricht?

 

Zur Born to-Reihe gibt es eine Trigger-/Contentwarnung, die sich vor der Leseprobe befindet.

Leserstimmen

Es ist keine typische Liebesgeschichte, bei der man beim ersten Mann auf den sie trifft, weiß, dass sie zusammenkommen werden. Deshalb ist dieser Roman meiner Meinung nach näher an der Realität als manch anderer.
Fazit: Spannend, romantisch und sogar lustig.

~ Buchfressende Gestaltwandlerin

 

 

 

Trigger-/Contentwarnung

Die Born to-Reihe behandelt Themen, die triggern könnten. Dazu gehören toxische Beziehungen, häusliche Gewalt, Mobbing, Verlust und Fehlgeburt.

 

 

 

Leseprobe

1.

Es tut mir leid. Wir konnten nichts für sie tun. Ich höre die Worte des Arztes wieder und wieder in meinen Gedanken. Dennoch kann ich es nicht akzeptieren.

Seit ich wach bin, starre ich die hohe, weiße Decke an, obwohl das grelle Licht in meinen Augen brennt. Ich habe in den vergangenen drei Stunden schon so viele Tränen vergossen, dass ich Kopfschmerzen habe und doch sind es nicht genug, um meinen Verlust auszudrücken.

Selbst meine Zimmergenossin hat geweint, als sie mitbekommen hat, was geschehen ist. Außer ihrer Beileidsbekundung hat sie kein Wort mit mir gewechselt, wofür ich ihr dankbar bin, denn ein Gespräch darüber könnte ich nicht ertragen.

Also sehe ich immer weiter die Decke an und frage mich, warum ich noch hier bin. Ich wünschte, ich wäre mit ihr gegangen.

Als nach einem leisen Klopfen an der Tür eine Schwester das Zimmer betritt, warte ich darauf, dass sie mit der älteren Frau im benachbarten Bett spricht oder nur wieder meinen Tropf kontrolliert. Doch sie richtet das Wort an mich und mir wird eiskalt. »Ihre Eltern sind da.«

Am liebsten würde ich sagen, sie solle sie wieder wegschicken. Sagen, dass ich schlafe. Aber das würde sie nicht davon abhalten, hereinzukommen. Deshalb schweige ich und warte darauf, dass Mom und Dad das Zimmer stürmen. Vielleicht mit meinen jüngeren Brüdern im Schlepptau, während die einzige Person, die ich jetzt wirklich sehen möchte, hunderte Meilen entfernt ist. Ich bin mir sicher, meine Schwester Harmony würde kommen, wenn sie könnte. Falls sie überhaupt schon weiß, was passiert ist.

Mein Magen zieht sich vor Anspannung zusammen und ich bin dankbar, dass ich seit gestern nichts mehr gegessen habe. Als mein flatternder Blick der Schwester folgt, richtet sich meine Zimmergenossin ein bisschen auf. Obwohl ich sie nur für den Bruchteil einer Sekunde ansehe, kann ich das aufmunternde Lächeln erkennen. »Jetzt sind Sie immerhin nicht mehr allein, Kindchen. Sie werden das zusammen schaffen.«

Zusammen. Nein, dieses Wort existiert nicht, wenn es bedeuten würde, dass ich ein Teil davon wäre. Es hieß in meinem Fall schon immer gegen – und das wird auch immer so bleiben.

»Dass dir auch nichts heilig ist!«, faucht meine Mutter, kaum dass ich ihre dunkelbraune Erscheinung im Türrahmen erkenne. Ihre Haut ist dunkler als der Stoff des Kostüms, das sie noch von der Arbeit als Bürokraft einer Steuerkanzlei trägt. Die krausen, schwarzgrauen Haare bauschen sich wie eine Gewitterwolke um ihren Kopf. Wie kalt braune Augen sein können, weiß ich seit frühester Kindheit und doch trifft mich der eisige Blick direkt ins Herz. Ich habe mir keinen Moment lang die Hoffnung gemacht, sie könnte anders reagieren, aber diese Handvoll Sekunden genügt, um mich noch einmal zu fragen, weshalb ich mein Leben nicht einfach loslassen konnte.

Während ich gestern auf der Intensivstation lag, ist niemand da gewesen oder hat sich auch nur nach mir erkundigt. Hätte sich der Arzt nicht gewundert und mich gefragt, ob er jemanden informieren sollte, hätte ich wahrscheinlich nicht einmal darüber nachgedacht. Einfach, weil es für mich normal ist. Es hat mir nur leidgetan, dass ich keine Möglichkeit hatte, meine Schwester zu erreichen. Aber ich kann mich auch nur noch vage daran erinnern, wie ich überhaupt ins Krankenhaus gekommen bin.

Jetzt stapft Mom herein und lässt sogar meine Zimmergenossin zusammenzucken, obwohl sie diese gar nicht zur Kenntnis nimmt. Die Parfümwolke, in die sie sich immer hüllt, verursacht Übelkeit bei mir, sobald sie in meine Nase steigt. Dad lässt sich mehr Zeit und schiebt meinen siebenjährigen Bruder Nicholas vor sich her. Unser jüngster Bruder Nathan ist nicht dabei, aber ich bin froh, dass er mich nicht so sehen muss. Noch macht wenigstens er sich Sorgen um mich.

»Du hättest das Balg gleich wegmachen lassen sollen. Du bist viel zu verantwortungslos. Und jetzt haben wir deinetwegen nur Scherereien«, keift Mom aufgebracht und mit jedem Wort sinke ich tiefer in das Kissen. Tränen brennen in meinen Augen, doch ich spare mir die Erwiderung, dass auch eine Abtreibung nicht gerade mit einer Impfung gleichzusetzen gewesen wäre. Und nebenbei Geld gekostet hätte. Geld, das sie für mich aufgebracht hätten und das ich bis auf den letzten Cent hätte zurückzahlen müssen.

Vor sechs Monaten habe ich erfahren, dass ich schwanger bin. Es war ein Schock. Viel zu früh und, wie sich herausgestellt hat, mit dem falschen Kerl an meiner Seite. Als ich Jeremia von seinem Kind erzählt habe, hat er mich sitzen lassen und sich seither nicht ein einziges Mal gemeldet. Ich wollte das Kind nicht. Hasste, dass es mich täglich mit starker Übelkeit an seine Existenz erinnerte.

Ich habe drei Wochen gebraucht, um wenigstens Harmony davon zu erzählen, obwohl ich gewusst habe, dass sie hinter mir stehen und mir helfen würde, mit meiner Entscheidung klarzukommen. Ich habe wirklich darüber nachgedacht, das Kind nicht auszutragen, aber je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto klarer wurde mir, dass ich dieses neue Leben nicht beenden konnte.

»Hörst du überhaupt zu, wenn man mit dir redet?«, reißt mich meine Mutter aus den Gedanken. Den Stoß, den sie mir versetzt, spüre ich nur allzu deutlich in meinem Bauch, der mir so schwer erscheint, als seien nun Backsteine anstelle des Babys darin. Aber da ist nichts mehr. Keine Bewegung, kein Herzschlag, kein Leben. Und ich weiß, dass ein Teil meiner Seele mich mit meiner Tochter verlassen hat.

Es tut mir leid. Wir konnten nichts für sie tun. Wieder fließen die Tränen über und schnüren mir die Kehle zu. Ich habe bis heute Mittag nicht gewusst, dass es ein Mädchen gewesen war. Ich wollte mich bei der Geburt überraschen lassen.

Mehrere Sekunden vergehen, bis ich meinen verschleierten Blick heben und Mom ins Gesicht sehen kann. »Ich … ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Bis gestern war alles in Ordnung.«

»Nichts war in Ordnung!«, herrscht sie mich an, sodass ich mich am liebsten unter dem Bett verstecken würde.

Meine Zimmergenossin mischt sich schockiert ein. »Entschuldigen Sie, so können Sie doch nicht mit ihrer Tochter reden.« Ihr Gesicht ist aschfahl und ihre grauen Augen glänzen verdächtig.

»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, knurrt Dad mit drohendem Blick. Der Blick seiner bernsteinfarbenen Augen, die Harmony und die Jungs so voller Stolz betrachten können, bohrt sich in den der alten Frau. Genauso wie sie es bei mir immer tun. Damals für schlechte Noten in einem Test, dann wegen meines ersten Freundes, mit dem ich nicht mehr als Händchen gehalten habe, und schließlich, als er von der Schwangerschaft erfahren hat – und davon, dass Jeremia das Weite gesucht hat. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er mich einmal anders angesehen hat.

Ich will die Frau verteidigen oder ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen machen soll, aber es gelingt mir nicht. Meine Tochter ist das einzige, das in meinen Gedanken Platz hat.

»Es war doch klar, dass du nicht einmal hinbekommst, eine Schwangerschaft hinter dich zu bringen, ohne noch mehr Probleme zu verursachen. Jetzt hör schon auf zu heulen.« Mom schüttelt verärgert den Kopf. »Was hätte denn auch aus dem Kind werden sollen mit dir als Mutter?«

Ich schnappe nach Luft. Wieder einmal fühlt es sich an, als hätte sie mir ein Messer ins Herz gestoßen. Dabei habe ich diese Worte schon so oft zu hören bekommen. Mein Schluchzen wird lauter, verzweifelter.

Ich wünschte, ich wäre mit dir gestorben. Dann wären wir jetzt beide an einem besseren Ort. Denn obwohl ich wollte, dass mein Baby lebt, weiß ich, dass ihr ein genauso unbarmherziges Leben bevorgestanden hätte wie mir. Vielleicht war sie im Gegensatz zu mir kein Pechvogel und sie hat diese Welt verlassen, bevor ihre Seele Schaden nehmen konnte.

Die Schwester, die vor ein paar Minuten – gefühlten Stunden – meine Eltern angekündigt hat, kommt wieder herein. Ihr Gesicht ist angespannt, aber freundlich, als sie um etwas mehr Ruhe bittet. Doch auch sie wird nur missbilligend zurechtgewiesen, bis sie sich zurückzieht. Niemand widerspricht meiner Mutter, die sich dank ihrer beeindruckenden Statur zu einer ernstzunehmenden Bedrohung aufbauen kann. Mit ihren fast ein Meter neunzig ist sie einen guten Kopf größer als ich und hat im Gegensatz zu früher einige Pfunde zu viel auf ihren Hüften. Würde sie auf meiner Seite stehen, wie sie es bei meinen Geschwistern tut, müsste ich mich wohl vor nichts mehr fürchten. Aber das tut sie nicht. Sie hasst mich aus Gründen, die ich noch immer kaum verstehe.

Es geht weiter mit den Vorwürfen. Ich lasse sie auf mich niederprasseln, ohne hinzuhören. Es sind ohnehin immer dieselben und ich kenne sie auswendig, aber kein einziger ist jetzt noch wichtig.

»Mr und Mrs Sanchez, ich muss Sie jetzt bitten zu gehen«, erklingt plötzlich eine strenge Stimme, die so gar nicht zu dem mitfühlenden Arzt passt, der mir vor wenigen Stunden erklärt hat, was passiert ist. Bevor meine Eltern widersprechen können, fährt er fort. »Das hier ist ein Krankenhaus. Die Patienten benötigen dringend Ruhe. Ihre Tochter bildet da keine Ausnahme.«

»Wir haben hier aber noch wichtige Dinge zu besprechen«, entgegnet meine Mutter und stemmt die Hände in die Hüften.

»Momentan ist am wichtigsten, dass Ihre Tochter wieder auf die Beine kommt«, entgegnet der Doktor nüchtern und hebt die Hand, als Dad einen Schritt auf ihn zugeht. »Wenn Sie nicht gehen möchten, können Sie das auch mit unserem Sicherheitsdienst ausdiskutieren.«

»Schon gut. Komm, Brittany«, knurrt mein Vater, ohne den Blick von meinem Arzt abzuwenden. »Hier wird sie sich immerhin nicht den nächsten Braten in die Röhre schieben lassen.«

Ich übergehe seinen Kommentar genauso wie das Aufkeuchen meiner Zimmergenossin. Für ihn habe ich keine Tränen mehr. Nur noch für sie.

Mom folgt ihm aus dem Zimmer, wobei sie Nicholas am Arm mit sich zieht. Während sie dem Arzt noch einen bösen Blick zuwirft, zeigt mein Bruder mir den Mittelfinger und schneidet eine Grimasse. Wie immer zieht sich alles in mir zusammen, als ich es sehe. Ich frage mich, wie er Harmony gegenüber so liebenswürdig sein und mir, ihrem Ebenbild, immer nur diese hässliche Seite zeigen kann.

»Melody?« Die Stimme lässt mich zusammenzucken, obwohl sie leise ist. Ich schlinge die Arme um mich und spüre, dass ich zittere. »Melody.«

Endlich schaffe ich es, den Blick zu heben. Mein Arzt steht am Fußende des Bettes und mustert mich besorgt. »Sie können Hilfe bekommen, wenn Sie das möchten.«

Ich bin nicht in der Lage zu nicken oder den Kopf zu schütteln. Geschweige denn zu sagen, dass ich bei Fremden keinen Trost suchen möchte. Meine Familie ist alles, was ich habe. Oder genauer gesagt, zählt für mich nur meine Schwester.

 

◊◊◊

 

3 Jahre zuvor

Ich senkte den Kopf tiefer über meine Schulhefte, als Mom das Esszimmer betrat. Heute war ein Brief von meiner Lehrerin gekommen, der meine Eltern darüber aufklärte, dass ich die Sachen eines anderen Schülers beschädigt hatte. Ich hatte es nicht abgestritten, aber auch nicht gesagt, dass ich mich nur zur Wehr gesetzt hatte. Eigentlich wollte ich nur, dass sie endlich aufhörten, mich zu beleidigen und herumzuschubsen. Doch mein Ausraster gestern Morgen hatte das Gegenteil bewirkt, denn jetzt behielten mich auch noch die Lehrer im Auge, die mich für gewöhnlich in Ruhe ließen.

»Harmony, Schatz, der Brief wegen deiner nichtsnutzigen Schwester ist nicht der einzige, der heute gekommen ist«, flötete unsere Mutter, was mich leise aufatmen ließ. Sie wedelte mit einem großen, braunen Umschlag, der gleich darauf vor Harmony landete. Diese zog sofort den kleinen Stapel Papiere heraus und widmete sich dem Anschreiben.

Ich starrte angestrengt nach vorne, versuchte jedoch, aus dem Augenwinkel zu erkennen, um was es sich handelte. Der Briefkopf beinhaltete etwas, das aussah wie ein Wappen.

Noch bevor ich mehr ausmachen oder meine Schwester lesen konnte, was in dem Brief stand, platzte Mom damit heraus. »Dein Vater wird so stolz sein, dass du das Stipendium bekommen hast! Nach den Sommerferien wirst du die Schule wechseln.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihre Worte zu uns durchdrangen. Harmony quietschte aufgeregt, im nächsten Moment fand ich mich in ihrer Umarmung wieder.

Ich freute mich für sie. Ich freute mich wirklich. Aber ich hatte auch ein wenig Angst. Wir waren nie in dieselbe Klasse gegangen, weil sie ein Jahr früher in die Schule gekommen war als ich. Doch wir waren immer zusammen nach Hause gefahren. Ab jetzt würde das nicht mehr möglich sein. Wenn es nicht sogar eine der Schulen war, in denen die Schüler unter der Woche wohnten und nur am Wochenende nach Hause kamen. Ich betete darum, dass es nicht so sein würde.

»Das freut mich so für dich«, flüsterte ich in ihr krauses Haar, das mein Gesicht kitzelte. Genauso wie meines das ihre.

 

◊◊◊

 

Harmony hatte zwei Monate später nicht nur die Schule gewechselt, sondern auch einen Großteil unseres gemeinsamen Kleiderschrankes geräumt. Sie hatte es nicht wirklich weit bis nach Hause, aber der schier endlose Lernstoff sorgte dafür, dass sie die Nachmittage in ihrem Zimmer oder der Bibliothek verbrachte. Ich besuchte sie manchmal, aber viel Zeit blieb uns meistens nicht, bis ich mich wieder auf den Heimweg machen musste.

Für mich hatte sich entgegen meiner Befürchtungen in der Schule nichts geändert. Die Unterrichtsstunden und Pausen waren weiterhin die Hölle gewesen, aber auf dem Heimweg hatte der einzige Unterschied darin bestanden, dass ich allein in den Bus gestiegen und nach Hause gefahren war.

Doch während meiner Schwangerschaft ist es mir schwergefallen, auf sie zu verzichten, weil sie mein einziger Kontakt zur Außenwelt war.

 

***

 

»Melody?« Mein Name aus Harmonys Mund bringt zum ersten Mal seit Tagen etwas in mir zum Klingen, obwohl sie mich aus den Gedanken zurück ins Krankenzimmer holt.

Es passt zu mir und meinem Glück, dass sie eine Studienfahrt mit der gesamten Stufe ihrer Schule gemacht hat, als ich im Krankenhaus gelandet bin.

»Harmony, du bist zurück.«

Meine Zwillingsschwester eilt auf mich zu. Es ist, als würde ich in den Spiegel sehen, nur dass meine Schwester die schwarzen Locken ordentlich frisiert hat. Genau wie meine sind sie dank unseres lateinamerikanischen Vaters ziemlich weich, während wir die dunkelbraune, samtene Haut unserer Mutter zu verdanken haben. Harmonys dunkle Augen sind weit aufgerissen und füllen sich mit Tränen, sobald sich unsere Blicke treffen. In diesem Moment weiß ich, dass ich doch nicht völlig allein um mein Baby trauere.

Ich habe gehofft, dass meine Eltern nicht noch einmal kommen. Doch auch als ich angerufen habe, weil ich heute entlassen werde, hat sich niemand die Mühe gemacht, herzukommen. Ich wäre irgendwie mit dem Bus nach Hause gefahren. Genauso, wie ich auch hierhergekommen bin.

»Ich wäre sofort gekommen, wenn ich es gewusst hätte. Es tut mir so leid.« Harmony ist deutlich anzusehen, dass es nicht die ersten Tränen für heute sind, die nun über ihre Wangen rollen. Sie schließt fest die Arme um mich, als hätte sie die Absicht, mich nie wieder loszulassen. Der tropische Duft ihres Parfüms lässt ein wenig die Angst von mir abfallen, weil er für einen kurzen Moment den Geruch des Krankenhauses verdrängt. »Ich bin erst heute Nacht angekommen. Mom hat erst eben damit herausgerückt, wo du bist.«

Ich kann nur den Kopf schütteln.

»Sie wollte mich allen Ernstes in die Schule schicken.« Harmony zischt verächtlich. »Also, wo sind deine Sachen?«

Ich zucke die Schultern und sehe zu Boden. »Ich hatte keinen Kopf dafür, mir noch eine Tasche zu packen.«

Meine Schwester nimmt mich noch ein zweites Mal in den Arm. »Dafür bin ich jetzt da. Connor hat mir sogar sein Auto geliehen. Was hältst du davon, wenn wir den Tag irgendwo verbringen, wo wir ungestört sind?«

Meine Zimmergenossin wünscht mir alles Gute und lächelt mir freundlich zu, obwohl ich kein einziges Mal auf ihre Versuche, eine Unterhaltung zu beginnen, eingegangen bin.

Harmony fährt zu einem kleinen Café, in dem wir früher manchmal mit unseren Großeltern waren und eine heiße Schokolade trinken durften.

Da Mom und Dad immer einen Grund finden, um mir das Taschengeld zu streichen, muss ich mich von Harmony einladen lassen, aber es ist bei weitem nicht das erste Mal und inzwischen habe ich akzeptiert, dass sie dafür keine Gegenleistung erwartet. Wir ziehen uns in die hinterste Ecke zurück und ich zerpflücke eine der Papierservietten in kleine Stücke, bis meine Schwester mit zwei Tassen Cappuccino und einem Teller mit verschiedenen Minidonuts zurückkehrt.

Ich seufze, als ich an dem heißen Getränk nippe. Es ist ein halbes Jahr her, dass ich etwas anderes als Wasser und Tee getrunken habe. »Danke, das habe ich jetzt wirklich gebraucht.«

Dennoch hält es uns nicht lange in dem Café, denn ich rühre die Donuts nicht an und schon nach wenigen Minuten überkommt mich die nächste Welle der Trauer.

 

 

2.

8 Jahre später

Der Boden unter mir ist kalt und feucht. Tautropfen glitzern in den ersten Sonnenstrahlen des Tages auf den Grashalmen und durchnässen meine Jeans. Dennoch friere ich nicht. Ich schäme mich so sehr für das, was ich in der letzten Nacht gemacht habe, dass ich kaum Notiz von meiner Umgebung nehme. Mir ist übel von der Party, auf der zumindest für mich viel zu viel Alkohol geflossen ist, und die Kopfschmerzen bringen mich um den Verstand, seit ich im Morgengrauen auf der Liege eines Tattoostudios wachgeworden bin.

Wenn ich betrunken war, habe ich schon immer dumme Sachen gemacht. Aber dieses Mal habe ich mich selbst übertroffen. Ganz vage erinnere ich mich an die Wetteinsätze. Allein deshalb hätte ich meine Handtasche schnappen und nach Hause gehen sollen. Stattdessen habe ich die Wette mit einem Handschlag besiegelt. Dabei hätte mir klar sein müssen, dass es eine Scheißidee ist, sich zu einem Tattoo überreden zu lassen. Wie oft habe ich den Kopf darüber geschüttelt, wenn ich Leute im Fernsehen gesehen habe, die einen ähnlichen Fehler gemacht haben? Und jetzt sitze ich hier. Kann nicht glauben, dass mich der Typ, mit dem ich gewettet habe, im Morgengrauen aus dem Tattoostudio seines älteren Bruders, in dem er manchmal aushelfen darf, geworfen hat. Nur um zu vertuschen, was er in der vergangenen Nacht getrieben hat. Vor allem, als er mir sein Werk gezeigt hat und ich hemmungslos zu heulen angefangen habe, konnte er mich gar nicht schnell genug loswerden.

»Ich kann nicht glauben, dass ich das getan habe«, murmele ich mit zitternder Stimme, während mein Blick über den Grabstein wandert und dann zu den blauen und weißen Blumen, die ich in der letzten Woche daneben gepflanzt habe. Die welken Blüten habe ich längst abgezupft. Es hat auch nach all den Jahren etwas Beruhigendes, das Grab zu besuchen und leise zu reden, wenn niemand in der Nähe ist. Aber heute hilft es nicht. Ich bin immer noch aufgewühlt, Tränen laufen über meine Wangen und ich fühle mich so allein wie seit langem nicht mehr.

Meine Fingerspitzen streichen zum tausendsten Mal über den neuen Schriftzug auf meiner Haut. Es sind nur vier Buchstaben und doch fühle ich mich irgendwie entstellt. Schlimmer noch: Ich habe damit ein Andenken beschmutzt, das mir unendlich viel bedeutet. Wie konnte ich so blöd sein?

Der kleine Traumfänger, den ich mir vor sieben Jahren hinter das Ohr habe tätowieren lassen, nimmt mit seinem Schmuck auch einen Teil meiner rechten Halsseite ein. Neben Federn ist er aber auch mit Namen verziert. Brooke, meine Tochter, die ich nie kennenlernen durfte, weil sie viel zu klein gewesen war, als sich die Plazenta vorzeitig abgelöst hatte. Die Ärzte hatten auch nicht ausschließen können, dass der psychische Stress seinen Teil dazu beigetragen hatte. Und Harmony, die einzige Person, die mit mir durch die Hölle gegangen ist. Jetzt steht da Matt an meinem Hals, knapp oberhalb meines Schlüsselbeins. Für meinen Freund Matthew, mit dem ich seit über einem Jahr zusammen bin.

War. Es war meine längste Beziehung bisher und ich habe geglaubt, wir seien glücklich. Und ausgerechnet heute komme ich mit dem neuen Teil des Tattoos nach Hause, während er dabei ist, seine Sachen zu packen. Mehr als ein Regalbrett in meinem Schrank und einer Handvoll Dinge im Bad war es nicht. Matt hat eine Sporttasche gepackt, seinen Schlüssel auf dem Esstisch abgelegt und ist gegangen. Kaum etwas deutet darauf hin, dass er einmal ein Teil meines Lebens gewesen ist. Eigentlich nur unzählige Fotos, die uns beide zeigen. Aber es sind die Erinnerungen an ihn, die in jedem Raum lauern und die ich fürchte.

Angefangen bei der Treppe im Haus, die wir zusammen hinuntergefallen sind. Er hatte nichts, ich dagegen mehr Schrammen und blaue Flecken, als Stufen im ganzen Haus zu finden sind. Aber an diesem Tag sind wir zusammengekommen.

Ein anderes Mal habe ich ihm im Streit die Tür vor der Nase zugeschlagen. Dummerweise habe ich sie ihm dabei auch gebrochen …

Als wir drei Monate zusammen waren, hat er mich samstags mit Frühstück im Bett überrascht, bevor er mich ins Auto gepackt hat und mit mir an einen See gefahren ist, wo wir am verschneiten Ufer entlangspaziert sind.

Meinen violett-silbernen Couchüberzug haben wir zusammen ausgesucht und ihm drei Wochen später versehentlich ein Brandloch verpasst, als wir eine Kerze anzünden wollten.

Mit Matt war es irgendwie lustig, Pech zu haben. Wenn ich allein bin, ärgere ich mich darüber, wenn etwas zu Bruch geht. Zusammen mit ihm konnte ich darüber lachen, während wir den Schaden zu zweit beseitigt haben. Dank ihm war das vergangene Jahr nicht nur stressig, sondern auch schön. So schön, dass ich mich oft gefragt habe, wie ich ohne ihn klarkommen sollte.

Aber eigentlich wird es wie immer sein. Ich werde mich damit abfinden und die Zeit wird kommen, da er keinerlei Bedeutung mehr für mich hat. Aber sein Name wird für immer in meiner Haut verewigt sein.

»Er hat es nicht verdient, bei euch zu stehen«, flüstere ich und wieder verschwimmen die Worte in dem hellgrauen Marmor vor meinen Augen. Ich kann nicht leugnen, dass ich mir an Matts Seite zum ersten Mal wieder wie ein Mensch vorgekommen bin, der mehr wert ist als der Dreck auf der Straße. Bei ihm habe ich Frieden gefunden, wenngleich die Zeit oft knapp war und wir uns selten länger als ein paar Stunden unter der Woche gesehen haben. Selbst an den Wochenenden hatten wir wegen meiner Zusatzschichten in einem Diner meist nur wenige Gelegenheiten, auch einmal etwas zusammen zu unternehmen.

Trotzdem hatte ich das Gefühl, ihn besser zu kennen als die meisten anderen Menschen, die mir irgendwann mal nahe waren. Ich habe nicht wirklich viel Freizeit. Schon gar nicht für eigene Hobbys, aber ich glaube, bei seinen Footballspielen hätte ich gerne zugesehen und ihn angefeuert. Wenn wir Filme angesehen haben, mussten wir keine halbe Ewigkeit darüber diskutieren, wer aussuchen darf, weil wir ohnehin dasselbe ausgewählt haben. Doch es war auch seine Familie, die mein Leben ein klein wenig schöner gemacht hat. Sie haben mich akzeptiert. Als Matts Freundin. Als Mensch. Und jeder von ihnen hat es ein bisschen einfacher für mich gemacht, ein Pechvogel zu sein.

Obwohl ich diese positiven Erinnerungen nicht kaputtmachen will, drehen sich meine Gedanken darum, was ich übersehen habe. Welche Anzeichen hätte ich erkennen und deuten müssen? Hat es Hinweise darauf gegeben, dass er nicht mehr zufrieden ist? Waren es meine Macken und mein Pech, die ihm auf Dauer doch zu anstrengend geworden sind? Oder hat er eine andere kennengelernt? War ich ihm nicht genug? Warum hat er nichts gesagt?

Ich will ihm schreiben, ihm Fragen stellen, mit ihm reden, ihn anschreien. Doch er reagiert weder auf Nachrichten noch auf Anrufe. Seit ich hier bin, unterdrücke ich den Drang, ständig aufs Handy zu schauen. Ich würde ohnehin nur feststellen, dass er sich nicht gemeldet hat. Wenn ich nicht wüsste, dass es ihn wütend machen würde, würde ich seine Mutter anrufen. Fragen, ob sie etwas weiß. Ich grabe meine Hand ins Gras, weil mich schon wieder das Verlangen überkommt, ihre Nummer zu wählen und seinen Ärger zu ignorieren.

Leise Stimmen in meiner Nähe reißen mich aus den Gedanken und ich sehe mich um. Zwei ältere Frauen in beigefarbenen Mänteln gehen den Pfad hinab zu den hinteren Gräbern. Als sie an mir vorbeikommen, nicken sie mir zu. Wir kennen uns seit Jahren vom Sehen. Ich folge ihnen mit den Augen, bis ihr Geplauder in der Ferne verstummt.

In den Monaten nach der Beerdigung war meine Familie ein paar Mal hier, doch seitdem pflege ich das Grab. Ich weiß, dass sie es nicht ertragen hierherzukommen – und dass sie sich wünschen, ich würde hier liegen. Es gibt keinen Tag, an dem ich es mir nicht auch wünsche, dennoch quält mich der Gedanke, dass der Grabstein einfach nur Moos ansetzen würde, wenn ich nicht wäre. Ich weiß, dass es so wäre, wenn ich mich zusammen mit Brooke von dieser Welt verabschiedet hätte.

»Ich habe dir schon einmal versprochen, dass ich mir mehr Mühe geben werde. Aber dieses Mal werde ich es wirklich tun.« Ich wische mir die Tränen vom Kinn und schniefe. »Ab jetzt werde ich die Finger vom Alkohol lassen. Und von Männern gleich mit. Das hat doch sowieso alles keinen Sinn.«

Es ist nicht schwer zu erraten, weshalb es mir bisher nicht gelungen ist. Es ist nicht einmal so, dass meine fast schon wöchentlichen Clubbesuche, die von meinen Schichten im Schnellrestaurant abhängig sind, ein Loch in meine Finanzen gerissen hätten. Irgendwen habe ich immer gefunden, der mich auf einen Drink oder auch mehrere eingeladen hat, bevor ich mich still und heimlich verkrümelt habe, um auf Matt zu warten. Viel zu selten ist er derjenige gewesen, der mich begleitet hat, weil er am Wochenende oft Spiele hat und mit seiner Mannschaft Sieg oder Niederlage begießt.

Im Feiern und Trinken bin ich gut. Genauso wie ich gut darin war, mit jeder Menge Typen ins Bett zu springen, bevor ich Matt kennengelernt habe. Am nächsten Morgen habe ich es oft bereut, aber währenddessen hat es meine Trauer betäubt, die mit den Jahren nicht weniger, sondern mehr geworden ist. So wie der Alkohol.

»Und das hier«, ich streiche wieder über die frische Tätowierung, »werde ich wiedergutmachen. Er hat diesen Platz nicht verdient.«

Ich erhebe mich langsam von dem kalten Boden und ächze. Ein unangenehmes Prickeln ergreift Besitz von meinem linken Bein. Es lässt mich straucheln, als ich zum Grabstein gehe, sodass ich beinahe wieder im Gras lande. Wie immer küsse ich meine Fingerspitzen und presse sie gegen den kalten Marmor, bevor ich gehe.

Jeder meiner Besuche läuft nach demselben Muster ab. Ich sitze da und rede, verabschiede mich mit einem Kuss und drehe mich noch einmal zu dem Grab um, bevor es aus meinem Sichtfeld verschwindet.

Mein Blick gleitet noch einmal über die Buchstaben und Ziffern, während ich flüstere: »Bis dann, Schwesterherz.«

 

Harmony Scott

Geliebte Tochter und Schwester

1995 – 2016