Splintered Souls

Das Schicksal vereint - Splintered Souls 1

Die siebzehnjährige Luna findet sich ohne Erinnerungen in einer fremden Umgebung wieder. Auch der junge Mann, der plötzlich auftaucht und sie beschützt, weiß nur, dass sie eine Ghenda sein muss: Jemand, der eine Seele aus mehreren Splittern besitzt. Teile zerbrochener Seelen, die es ihr ermöglichen, zwischen verschiedenen Welten zu wandern.
Doch nicht nur die Blackouts stellen ein Problem dar, sondern auch der Geisterwolf, der angeblich ihr Seelengefährte sein soll.

Was, wenn deine Seele in zwei Welten zuhause ist?

Was, wenn du deinen Seelengefährten nicht liebst?

Was, wenn dein Seelengefährte dich töten will?

Wenn die Seele zerbricht - Splintered Souls 2

Die Probleme der Zwillingsschwestern werden nicht weniger, als mit Stellas plötzlichem Verschwinden klar wird, dass sie beide Ghenda sind. Als sie durch einen Zufall gemeinsam wandern, behalten sie ihre Erinnerungen. Während sie noch damit beschäftigt sind, den Grund dafür herauszufinden, leidet Luna darunter, dass Ro’esan weiterhin in Semwin ihren Seelengefährten sieht. Doch es deutet immer mehr darauf hin, dass irgendetwas daran nicht stimmt. Semwins Zustand verschlechtert sich von Besuch zu Besuch und sie beschließen, eine weitere Reise zum Seelenwald auf sich zu nehmen, um die Wahrheit herauszufinden.

Was, wenn das Schicksal erst dann richtig zuschlägt?

Was, wenn eine zersplitterte Seele erneut zerbricht?

Was, wenn Schicksale über die Grenzen der Welten hinaus untrennbar verwoben sind?

Leserstimmen

»Band 1 der Splintered Souls-Dilogie hat mich so in seinen Bann gezogen, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Die Geschichte um Luna und Ro’esan ist herzerwärmend und lebendig.«

»Es geht weiter in einer magischen Welt und mit Wesen, die man sich in die Wirklichkeit wünscht.«

 

Leseprobe

Prolog

Es war sein Innerstes, das ihn lange vor Sonnenaufgang dazu verleitete, seinen Wald zu verlassen. Dies war ein Weg, den man nur aus einem Grund ging: um seine Bestimmung zu finden.

Zielstrebig bewegte er sich gen Südwesten, umging dabei die Bäume, die voller silbrigweißer Fäden hingen und ließ sich von seiner Seele lenken.

Nur die tiefen, großen Pfotenabdrücke zeugten noch davon, dass dieses sich lautlos bewegende Wesen mit dem schneeweißen Fell mehr war als ein Geist. Das lange, seidige Haar glänzte in der aufgehenden Sonne, als das riesige, wolfsähnliche Tier ohne ein Zögern oder einen Blick zurück seinen Wald verließ.

Tag um Tag und Nacht um Nacht lief es, ohne zu fressen oder zu ruhen, während seine eisblauen Augen aufmerksam den Horizont fixierten.

 

1.

Langsam drehte sie sich um ihre eigene Achse. Ringsherum zeigte sich ein und dasselbe Bild. Die Bäume, alte Kiefern und andere Nadelhölzer, ragten hoch in den hellblauen Himmel auf. Die Stämme waren nicht mehr als kahle Stecken, deren grüne Wipfel so weit über dem Boden thronten, dass man sie auf den ersten Blick kaum bemerkte. Eine dicke Schicht aus Pulverschnee, die hier und da von knorrigen Wurzeln durchbrochen wurde, bedeckte den Untergrund. Obwohl die Sonne ihren Zenit erreicht haben musste, schickte sie keine Wärme. Die Luft war kristallklar und bitterkalt.

Sie zitterte in dem viel zu dünnen Pullover. Doch schlimmer als die Kälte und der Schnee, der ihre Schuhe bereits durchnässte, war, dass sie nicht wusste, wie sie hierhergekommen war.

Noch einmal ließ die junge Frau den Blick schweifen, doch bis zum Horizont bot sich ihr das Bild einer weißen, einsamen Land­schaft.

Als sie die zweite Runde um ihre eigene Achse beinahe voll­endet hatte, hörte sie ein leises Knirschen des Schnees hinter sich, dann ragte wie aus dem Nichts eine Gestalt vor ihr auf. Mit einem leisen Aufschrei taumelte sie zwei Schritte zurück. Der Mann musste sich hinter einem der Bäume vor ihr verborgen gehalten haben. Aber aus welchem Grund? Er überragte sie um mehr als einen Kopf, die Haare fielen ihm in schwarzen, zerzausten Fransen ins Gesicht und seine Augen waren von einem so hellen Grün wie sprießende Blätter im Frühling. Mit seinem stechenden Blick wirkte er ebenso gutaus­sehend wie bedrohlich auf sie.

»Was hast du hier zu suchen?«, fragte er und sein kalter Tonfall ließ sie zusammenzucken.

»Ich … Ich weiß nicht«, stammelte sie unsicher. Der Mann, den sie auf etwa zwanzig Jahre schätzte, stemmte die Hände in die Hüften. Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Die blonden Haare, die sie geflochten und zu einem Dutt gedreht hatte, ihre blauen Augen, die an den Sommerhimmel erinnerten und ihre schlanke Gestalt, die in unpassenderer Kleidung nicht hätte stecken können.

»Was soll das heißen, du weißt es nicht?«, hakte er unfreund­lich nach.

Sie zögerte, weil die einzige Antwort, die sie darauf geben konnte, beängstigend war. Schließlich presste sie angespannt hervor: »Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin.« Dann schnappte sie entsetzt nach Luft. »Ich weiß nicht einmal meinen eigenen Namen!«

Ein Ausdruck, den sie nicht zu deuten vermochte, huschte über sein Gesicht. Überraschung? Erkenntnis? Argwohn? Was auch immer es gewesen war, wich gleich wieder der kühlen Fassade. Er strich sich nachdenklich über seinen Dreitagebart.

»Das ist für den Augenblick nicht wichtig. Komm mit!«, sagte er bloß, packte sie am Arm und zog sie mit sich. Ein paar Schritte stolperte sie neben ihm her, dann blieb sie abrupt stehen und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien.

»Nicht wichtig? Geht’s noch?!«, fauchte die junge Frau ihn an und riss sich los. Die anfängliche Unsicherheit räumte zugunsten von Verwirrung und Panik das Feld. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, sodass sie kaum noch atmen konnte. Ihr war es unmöglich zu sagen, aus welchem Grund sie mehr Angst hatte: Weil sie nicht wusste, wer sie war? Oder ihr dieser Ort völlig fremd war? Oder weil dieser Mann so unvermittelt vor ihr aufgetaucht war und sie nun ohne weitere Erklärung mitzunehmen versuchte? Sie stieß den ersten Gedanken hervor, den sie in klare Worte fassen konnte: »Ich werde keinen Schritt weitergehen, bevor du mir nicht sagst, was hier los ist.«

»Das kann ich dir hier nicht genauer erklären«, antwortete er nach kurzem Zögern.

»Und wer bin ich?«

»Ich kenne deinen Namen nicht, ich habe dich lediglich hier gefunden«, antwortete er etwas versöhnlicher. Beinahe schien es ihm leid zu tun, ihr keine Auskunft geben zu können.

Die junge Frau zog sich noch einen weiteren Schritt von ihm zurück und starrte ihn an. Sie streckte haltsuchend eine Hand nach dem Baumstamm aus, neben dem sie stand. Vergeblich versuchte sie, sich wieder zu beruhigen.

»Und wohin willst du mich mitnehmen?«

Der Blick seiner wachsamen Augen verfinsterte sich bei ihrer Frage. »Zum Lager. Ich verspüre nicht gerade das Verlangen, dabei zuzusehen, wie du zerfleischt wirst.«

»Bitte was?«, keuchte sie. Wie konnte er nur in diesem gleich­gültigen Tonfall davon sprechen, dass irgendwer oder vielmehr irgendetwas sie töten würde?

»Du hast mich schon richtig verstanden«, antwortete er schulter­zuckend und machte auf dem Absatz kehrt, um allein davon zu stapfen.

»Soll mich das jetzt beruhigen?«, rief sie ihm empört nach. Einen Augenblick lang glaubte sie, die Panik würde sie einfach über­mannen, doch dann schlug sie langsam in Wut um. »Woher soll ich wissen, dass mir nicht genau das passiert, wenn ich bei dir bleibe? Ich kenne dich ja nicht mal!«

»Mein Name lautet Ro’esan«, rief er im Weitergehen über die Schulter.

»Ro-was?«, fragte sie verwirrt.

»Ro’esan, eine Verbindung aus den Namen Rogh und Hesan.«

Dann setzte er ungerührt seinen Weg fort. Vermutlich wusste er, dass ihr mit diesem merkwürdig klingenden Namen nicht geholfen war, doch bevor sie ihm eine Erwiderung hinterherrufen konnte, erklang in der Ferne ein Geräusch, das dem Heulen eines Wolfes nicht unähnlich war. Verunsichert drehte sie sich um, konnte zwischen den Bäumen jedoch nichts erkennen.

Dennoch erschien es ihr nun ratsamer, dem Mann zu folgen und darauf zu achten, dass der Abstand zwischen ihnen nicht zu groß wurde.

In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken und kamen zu keinem sinnvollen Ergebnis. Das einzige, das sich immer wieder in den Vordergrund drängte, war Ro’esans Name, obwohl sie krampf­haft versuchte, sich an ihren eigenen zu erinnern.

Wenn es so weitergeht, drehe ich noch durch.

Trotz ihrer Angst zwang sie sich schließlich dazu, ihre Ge­danken auf etwas anderes zu lenken.

Aus Ermangelung nennenswerter Alternativen blieb ihr Blick schnell an Ro’esan hängen, der stur geradeaus ging. Der Überwurf aus langem, grauem Fell ließ seine Schultern noch breiter wirken als sie ohnehin schon waren. Wenn er seine Arme bewegte, um tiefhängende Äste zur Seite zu schieben, konnte sie einen kurzen Blick auf starke Muskeln erhaschen. Trotz der Kälte war das dunkelbraune Hemd ärmellos und seine Unterarme wurden nur durch Stulpen aus dem gleichen hellen Fell vor ihr geschützt. Die dunkle Wildlederhose verfügte über zahlreiche aufgenähte Taschen, die zum Großteil gefüllt schienen. Zusätz­lich dazu trug er einen Gürtel, an dem weitere Beutel und Taschen befestigt waren – und wie ihr nun bewusst wurde, auch eine ganze Sammlung von Messern. Beim Anblick der lederge­bundenen Hefte überlief es die junge Frau.

Wem laufe ich hier eigentlich hinterher? Es waren keine Erinne­rungen nötig, um zu wissen, dass es keine gute Idee war, einem fremden Mann zu folgen. Einem bewaffneten, fremden Mann.

Würden Ro’esans Worte und das Heulen nicht immer noch in ihren Gedanken nachklingen, hätte sie wohl beschlossen, eine möglichst große Entfernung zwischen sich und ihn zu bringen. So aber biss sie die Zähne zusammen und ging weiter, während sie mühsam Tränen und Panik im Zaum hielt.

Wegen seiner raumgreifenden Schritte musste sie beinahe ren­nen, was umso mehr Schnee in ihre inzwischen völlig durch­weichten Schuhe beförderte. Auch die hellblaue Jeans war schwer und klebte nass und kalt an ihren Beinen. Nichts unterschied sich von dem Ort, an dem er sie gefunden hatte. Zwischen den hoch aufragenden Nadelbäumen lagen vereinzelte, vom Sturm entwur­zelte Bäume. Hier und da wuchsen niedrige Büsche, die unter einer dicken Schneeschicht begraben waren. Alles schien gleich auszu­sehen, doch Ro’esan ging zielstrebig zwischen den Bäumen hindurch und drehte sich kein einziges Mal nach ihr um.

Die untergehende Sonne schickte ihr warmes Licht durch den Wald und tauchte die Umgebung in ein leuchtendes Orange.

»Dein Schnaufen hört man eine Meile gegen den Wind«, be­merkte er mit scharfem Unterton. Deshalb wusste er also, dass sie ihm folgte.

»Du bist zu schnell«, gab sie grimmig zurück.

»Ich habe vor, das Lager heute noch zu erreichen«, erwiderte er. »Sei dankbar, dass ich dich rechtzeitig gefunden habe.«

Gefunden?, fragte sie sich. Gefunden im Sinne von zufällig aufge­griffen oder gesucht?

Sie stellte die Frage nicht laut. Stattdessen versuchte sie, die steile Böschung zu erklimmen, die er bereits zur Hälfte hinter sich gelassen hatte. Doch sie glitt auf dem nassen Untergrund aus und schrie erschrocken auf, als sie das Gleichgewicht verlor. Bevor sie allerdings im Schnee landen konnte, packte Ro’esan ihren Unterarm und zog sie mit einem missbilligenden Schnalzen hinauf. »Pass gefälligst auf, wohin du deine Füße setzt!«

Ihr lag eine Bemerkung auf der Zunge, doch sie behielt die bissi­gen Worte lieber für sich. Sie wusste nicht wo sie war, geschweige denn wohin er unterwegs war – oder ob er sie einfach zurückließ, falls ihm ihre Gesellschaft zu lästig wurde.

Die junge Frau hatte die Hoffnung beinahe aufgegeben, noch irgendeine Art von Lager zu erreichen, als plötzlich hinter einem Hügel mehrere weiße Zelte und Feuerstellen auftauchten. Unsicher blieb sie neben einem Baum stehen und betrachtete mit hektischen Blicken die Leute, die sich dort aufhielten und verschiedenen Aufgaben nachgingen. Es waren ausnahmslos Männer, die ähnlich gekleidet waren wie Ro’esan, aber zum Großteil sehr viel furchtein­flößendere Waffen bei sich trugen. Ein Schauder lief ihren Rücken hinab.

»Wir haben Euch gesucht, mein …« Die erhobene Hand Ro’esans ließ einen Mann mittleren Alters abrupt verstummen. Alle im Lager wandten sich in seine Richtung. Dann erst fielen ihre Blicke nach und nach auf die junge Frau.

Unwillkürlich presste sie sich an den Baumstamm und starrte zitternd zurück.

»Das nenne ich mal eine ungewöhnliche Beute«, kommen­tierte ein anderer, was sie augenblicklich erstarren ließ. Beute.

Dieses eine Wort versetzte sie wieder in eine Panik, gegen die sie kaum anzukämpfen vermochte.

Die Männer musterten sie so neugierig, als würde ihnen eine kürzlich entdeckte Spezies präsentiert. Nur langsam kroch in ihr Bewusstsein, dass sie mit ihrer Jeans, dem Kapuzenpullover und den Turnschuhen einen ebenso befremdlichen Anblick abgeben musste, wie es umgekehrt war. Dennoch stellte sich ihr erneut die Frage, ob sie nicht lieber die Flucht ergreifen sollte. Doch, wohin?

»Komm ans Feuer!«, holte Ro’esan die junge Frau aus ihren Gedanken, würdigte sie jedoch keines Blickes. Unschlüssig blieb sie stehen und umschlang ihren Oberkörper mit den Armen.

Einige der Männer lachten leise, woraufhin Ro’esan sich um­drehte und zuerst ihr, dann den Männern einen eisigen Blick zuwarf, der diese sofort verstummen ließ.

Die Temperaturen, die sie trotz der vorangegangenen An­strengung unerbittlich zittern ließen, und ihre nassen Füße, bewogen sie schließlich doch dazu, den Baum zu verlassen und sich Ro’esan gegenüber an die wärmenden Flammen zu stellen.

»Habt ihr noch nie eine Frau gesehen? Macht euch lieber an die Arbeit«, blaffte Ro’esan keine zehn Sekunden später die Männer an. Zu ihrem Erstaunen leisteten sie dem ohne ein einziges Widerwort Folge. Trotz ihrer Angst registrierte die junge Frau, dass er in dieser Gruppe einen gewissen Einfluss haben musste. Nachdem Ro’esan ganz allein fernab des Lagers herumgelaufen war, hätte sie ihn eher für einen Späher gehalten, nicht für jemanden, dem alle anderen Gehorsam schuldeten. Unter diesem Schutz fühlte sie sich nicht mehr dermaßen ausgeliefert wie noch wenige Minuten zuvor, und Ro’esan verlor ein wenig von seiner Bedrohlichkeit.

»Komm, ich gebe dir etwas anderes anzuziehen.« Er klang nicht mehr ganz so unfreundlich, sodass sie nicht lange zögerte, bevor sie ihm in das mittig stehende Zelt folgte. Der Großteil des Innenraumes wurde von einem Feldbett eingenommen, das unter Bergen von Fellen und Decken begraben war. Ro’esan wühlte in einem großen Lederbeutel in der hinteren Ecke des Zeltes. Er förderte eine Hose und dicke Wollsocken zutage, die er ihr zusammen mit einem Umhang, der ebenfalls auf dem Nachtlager ausgebreitet war, überreichte.

»Wirst du den nicht selbst brauchen?«, fragte sie mit einem sehnsüchtigen Blick auf den Umhang.

»Mach dir um mich keine Sorgen. Auch mit dem Umhang wirst du noch genug frieren.«

Obwohl sie sich über den Spott in seiner kühlen Stimme ärgerte, war naheliegend, dass er Recht behalten würde.

»Ich versuche, noch ein Paar Stiefel für dich zu finden. Und dann sehe ich nach, ob die Bande etwas zu essen übriggelassen hat.« Mit diesen Worten drängte er sich hastig an ihr vorbei nach draußen und zog die Zeltklappe hinter sich herunter. Eilig schälte sie sich aus der nassen Kleidung und schlüpfte in die zu große Hose. Mit dem Gürtel aus ihrer Jeans schaffte sie es immerhin, Ro’esans Hose nicht im Stehen zu verlieren. Als sie den Kopf durch die Zeltklappe steckte, näherte er sich mit einem Paar Stiefel.

»Die werden dir zwar zu groß sein, aber besser als sich den Tod zu holen.« Es war schwer zu sagen, ob er so besorgt war, wie es seiner Wortwahl entsprach, oder es ihm so gleichgültig war, wie sein Tonfall vermuten ließ.

»Danke«, murmelte sie, während sie noch über diese Wider­sprüchlichkeit nachdachte. Sie tauschte die Stiefel gegen ihre Schuhe und war mehr als erleichtert, endlich wieder in trockenen Sachen zu stecken. Vielleicht war es doch richtig gewesen, mit ihm zu gehen. Mit dem schweren Umhang um die Schultern schob sie die Zeltklappe ein Stück zur Seite.

»Wer ist diese Frau?«, vernahm sie in diesem Moment die Stimme eines blonden jungen Mannes, der neben Ro’esan am Feuer stand. Auch er trug ein Fell um die Schultern, doch dieses war schneeweiß und ein schwaches Schimmern schien davon auszu­gehen. Aber es war nicht nur das Fell, das ihn unheimlich erscheinen ließ. Der flackernde Feuerschein verlieh seinem Gesicht ein beinahe dämonisches Aussehen.

»Weiß ich nicht, Sored.«

»Wie wäre es damit, ihr Fragen zu stellen?«, kam belustigt zurück.

»Sie hat keine Ahnung, wer sie ist, geschweige denn, wie sie hierhergekommen ist. Vermutlich wird sie genauso wieder von hier verschwinden und sich dann nicht einmal daran erinnern, dass sie hier war«, entgegnete Ro’esan mürrisch. Der andere warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, bevor er schließlich fragte: »Du glaubst also, sie wandert, ohne es zu wissen? Geht das denn?«

 »Irgendwann ist immer das erste Mal. Oder es ist einfach nicht bis zu uns vorgedrungen, dass es vorkommen kann. Wen würde das schon wundern?«

»Wie konntest du ihr überhaupt über den Weg laufen, wenn es so weit vom Lager entfernt war?«, hakte der Blonde nach.

»Ich hatte das Gefühl, dass ich dort etwas finden würde.«

»Noch dazu ein hübsches Etwas«, sagte der andere amüsiert.

»Darüber lässt sich streiten«, gab Ro’esan ungerührt zurück.

»So abweisend kenne ich dich gar nicht.« Sämtliche Erhei­terung in seiner Stimme wich bei seinen nächsten Worten kühlem Ernst. »Also begibst du dich in Gefahr und hältst es nicht für angebracht, auch nur einen von uns zu informieren?«

»Fang du nicht auch noch an, Sored«, erwiderte Ro’esan war­nend.

»Dein Vater hängt uns, wenn dir etwas zustößt.«

Ro’esan quittierte diese Bemerkung mit einem verächtlichen Schnauben.

Vielleicht ist er sogar noch wichtiger, als ich vermutet habe, dachte die junge Frau und verließ das Zelt. Wer ist er also? Wer sind all die anderen? Und … wer bin ich?

Wieder spürte sie die Blicke mehrerer Augenpaare auf sich ruhen. Auch Sored und Ro’esan wandten sich ihr zu, letzterer jedoch scheinbar nur, um seinerseits im Zelt zu verschwinden. Sie hatte zu viel Angst und war zu unsicher, um sich darüber aufzuregen, doch es trug weiter zu ihrem Unbehagen bei. Sie blieb mitten auf dem Platz zwischen Zelt und Feuerstelle stehen. Einen Moment lang überlegte sie, sich zu Sored ans Feuer zu stellen, doch er warf ihr ein spötti­sches Grinsen zu, sodass sie auf dem Absatz kehrtmachte und das Lager verließ.

»Lauf doch nicht weg!«, rief er ihr halbherzig nach, machte sich aber nicht die Mühe, ihr zu folgen.

Das Lager wurde auf einer Seite von einem Abhang im Fels begrenzt, der beinahe senkrecht in die Tiefe führte und besonders bei diesem Wetter vor Eindringlingen schützte. Der Hügel, über den sie gekommen waren, war von dieser Seite aus gut über­schaubar, genauso wie der Rest des Terrains.

»Du solltest wirklich im Lager bleiben«, hörte sie Ro’esan, der plötzlich neben ihr auftauchte.

»Ich lege nicht gerade viel Wert auf eine solche Gesellschaft«, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen. Das klang undankbar, doch in diesem Moment war es ihr gleichgültig.

»Sei froh, dass ich dich gefunden habe«, entgegnete er grimmig. »Komm.«

Sie bewegte sich nicht. »Hat sich nur nicht wirklich gelohnt, was?«

Ro’esan schüttelte den Kopf. »Ich hätte zumindest mit etwas Freundlichkeit gerechnet.«

»So freundlich wie du?«, schoss sie zurück und biss die Zähne zusammen. Sie wollte weg von hier. Dorthin, wo sie herge­kommen war – wo auch immer das sein mochte. »Was habe ich dir getan, dass du so bist?«

In seinem Blick flackerte etwas auf, das wie Bedauern aussah. Er wandte den Kopf ab und seufzte leise. »Es hat nichts mit dir zu tun.«

Sie wartete auf eine Erklärung, die sie verstehen konnte, doch er hüllte sich in Schweigen. Und als sie glaubte, er würde wieder zu den Feuern zurückkehren, wechselte er plötzlich das Thema: »Siehst du ihn, wie er hier herumschleicht?«

Nun klang er nachdenklich. Sie sah ihn verständnislos an. Ohne ein weiteres Wort der Erklärung deutete er mit einer Hand zu einer Baumgruppe weit vor ihnen. Angestrengt schaute sie in die angegebene Richtung, doch sie konnte beim besten Willen nichts erkennen, was seine Aufmerksamkeit erregt haben konnte. Als sie gerade fragen wollte, was er meinte, entdeckte sie ihn.

»Er ist uns gefolgt.«

»Was ist das?« Sie bemühte sich vergebens, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.